LAUDATIO

Anlässlich der Verleihung des Liliencron Nachwuchspreises
für junge Lyrik aus Schleswig-Holstein

Gehalten im Literaturhaus Schleswig-Holstein in Kiel von Studierenden des Instituts für Neuere Deutsche Literatur und Medien im Januar 2024

Jurybegründung

Franziska Ostermann spürt der Fragilität des Menschen in einer sprachlich hochkomplexen und zugleich tief berührenden Art nach. Das eigentlich Unsagbare erhält in ihrer Lyrik Worte.

In ihrem 2018 erschienenen Gedichtband »OSZIT« gelingt es der jungen Autorin mit ihren Texten Abstraktion und konkret greifbare Situationen miteinander zu kombinieren. Das Einbeziehen einer visuellen Ebene sowie wiederkehrende Stilelemente tragen dazu bei, dass ihre einzelnen Gedichte eine lyrische Symbiose eingehen. Durch Originalität, sprachliche Raffinesse und vielschichtige inhaltliche Tiefe gelingt es der Autorin, Räume des Trostes und Reflektierens zugleich zu öffnen. Stilsicher und empfindsam integriert sie Vergangenheit und Gegenwart in einer sprachlich verdichteten Weise. Sich kunstvoll überlagernde semantische Ebenen machen den Leseprozess durch die detaillierte Zeichnung unterschiedlicher Oberflächen und Klänge zu einem nahezu synästhetischen Erlebnis. Dabei finden die Themen Zeit, Vergänglichkeit, Kindheit und Tod, aber auch metasprachliches Reflektieren über gegenwärtige (Nicht-)Kommunikation ihren Platz. »Ich möchte eine Erinnerung sein, die immer fort neugeboren wird« – eine Erinnerung, die sich den Lesenden einpflanzt, in ihnen weiterlebt und neu geboren wird, sind die Gedichte Franziska Ostermanns, der ersten Preisträgerin des Liliencron-Nachwuchspreises.

Laudatio

Verehrte Gäste,

wir ehren heute Franziska Ostermann als Lyrikerin. „Poems are works of art“ – „Gedichte sind Kunstwerke“, sagt die kolumbianisch-amerikanische Künstlerin Ana María Caballero. Als multimedial arbeitende Künstlerin versucht unsere Preisträgerin, die Grenze oder vielmehr die Grenzen zwischen Literatur und bildender Kunst zu überwinden. Sie verleiht den Inhalten ihrer Kunst nicht nur lyrisch, sondern auch visuell einen Ausdruck.

In ihren Videoarbeiten werden Buchstaben, Worte und Texte als räumliche Gegenstände visualisiert.
Es gibt eine Fotoarbeit, bei der sich regelrechte Teppiche aus handschriftlichem Text gleichsam als Folie auf Selbstportraits legen. Heute bleiben wir bei ihrer Lyrik stehen. Auch hier werden Worte nicht einfach ökonomisch von oben links nach unten rechts gelayoutet, vielmehr werden sie, mit einem starken Bewusstsein für die weiße Fläche auf dem Papier gewissermaßen auf die leere Seite aufgetragen.

Franziska Ostermann denkt die Sprache immer auch in ihrer graphischen Dimension, und den Text als eigenständiges künstlerisches Werkzeug. Doch wie findet man überhaupt zur Sprache? – das scheint uns eine Frage zu sein, die für die Lyrik der Autorin einen hohen Stellenwert hat. „Hebe das Wort wie einen Stein“ schreibt Franziska Ostermann. Manchmal geschieht dieses Heben mit ruhiger, sicherer Hand – hat etwas Prosaisches oder sogar etwas imposant Aphoristisches. Und manchmal scheint man es bei diesem Heben eher mit einer inhaltlichen und formalen Suchbewegung zu tun zu haben.

Wenn Worte angefangen und wieder abgebrochen werden. Wenn es scheint, als würde der Versuch unternommen werden, Worte regelrecht zu erschreiben. Auch wenn das bedeutet, dass sie in Wortsilben, Wortbestandteile aufgebrochen, durch Kommata gespalten, dass sie „galant ent-zweit“ werden, um bei den Worten der Autorin zu bleiben. Manches Mal werden diese entzweiten Worte auch wieder miteinander vermischt, Neologismen werden gebaut. „Fischtraumgährung – Mandibelfraßnachlass – Schwindelschwingende – Selbstumfadung – Schwestertod.“ Das Schreiben stellt sich uns hier in seinem kreativen, erschaffenden Charakter dar, gewissermaßen am Abgrund der Wortlosigkeit.

Auch der Titel des Bandes, OSZIT, ist ein Neologismus – eine Wortneuschöpfung. Es handelt sich um eine Substantivierung des Verbs „oszillieren“, wie uns die Autorin verraten hat. Und man kann sagen: der Name ist in diesem Fall Programm. In diesem „Heben der Worte“, von dem ich gerade gesprochen habe, lässt sich, für unser Verständnis, ein Oszillieren zwischen dem Ergreifen und dem Verstummen von Worten erkennen.

Zu Beginn haben wir bereits auf Franziska Ostermanns multimediale Arbeit geschaut – auch die könnte man als ein Oszillieren, eben zwischen Literatur und bildender Kunst begreifen. Aber auch thematisch lässt sich diese Oszillation ausmachen – als Fokussierung auf den Zwischenraum, auf die Grauzone, auf das Ertasten und Überschreiten von Grenzen. So zum Beispiel in dem Gedicht Am Flutsaum, in dem die Autorin den Übergang zwischen Unterwasser und Überwasser mit einem bezwingenden Feinsinn als Flutsaum zu benennen weiß. Oder in dem Gedicht Das Walherz. Das Walherz „liegt | auf dem Wohnzimmer | tisch | und sagt | hier wohnt jemand, | der kann einem Wal | sein Herz stehlen.“ Dieses auf dem Wohnzimmer liegende Walherz erschafft einen Raum, in dem die für Menschen lebensfeindliche und fremde, aber auch scheinbar grenzenlose Tiefsee wortwörtlich in einem Wohnzimmer aufgeht – dem Inbegriff von Häuslichkeit, Gemütlichkeit aber auch Enge. Der Akt des Herausreißens, Stehlens und Einsperrens eines Herzens ruft dabei einen Gegensatz von Autonomie, Selbstbestimmung, Beweglichkeit auf der einen Seite und gewaltsamer Begrenzung auf der anderen Seite auf.

Diesen Moment des kleinen thematischen Einblicks möchte ich nutzen, um noch auf einen, unserer Meinung nach, wesentlichen Gegenstand dieser Texte zu kommen: die Zeit und das Vergehen der Zeit. Franziska Ostermann schreibt von Menschen, Tieren, Orten und Gefühlen, die in der Vergangenheit zurückbleiben, während andere die Zeit bis in die Gegenwart überdauern. Und dabei scheint gerade die Vergangenheitsform bei unserer Autorin stets unter dem Stern von Erinnern und Vergessen, beziehungsweise Erhalten und Vergehen, zu stehen. „standen wir | ver, standen wir | wo standen wir | schieden wir | ver, schieden wir | wie Seife treiben wir | wolkenlose Bäche“ Dabei formuliert sie den Umgang des Menschen mit dieser Vergänglichkeit als eine unlösbare Aufgabe und die Suche nach dem Bleiben, nach dem Zukünftigen als eine tiefe Sehnsucht. „und ich kenne Leute | die sind geblieben, manchmal | An dieser Stelle | die Korken, die Scherben, bei Sonne | Niesten in ihr Geblieben | sehe es gehört mir nicht | können Sie ein Wort einfügen. | weder mir noch Ihnen“

Abschließend möchten wir gerne noch eines betonen: wir alle haben beim Lesen gemerkt, dass das Worte-Finden für diese Hilflosigkeit im Angesicht der Vergänglichkeit durchaus etwas Tröstliches hat. Ein paar dieser gefundenen Worte wird Franziska Ostermann gleich lesen. Darauf freuen wir uns sehr. In diesem Sinne ist es uns nun eine Ehre, Franziska Ostermann mit dem ersten Liliencron-Nachwuchspreis (2024) auszeichnen zu dürfen. Herzlichen Dank an die Preisträgerin, und herzlichen Dank an das Publikum

Jakob Cieslinski, Nicholas Hänsel, Lea Martens, Tom Matte, Sina Pedersen, Annika Petersen und Finja Schmidt